In einer Zeit, in der Staaten Hunderte von Milliarden in militärische Aufrüstung investieren und der Klimawandel die größte Herausforderung der Menschheit darstellt, fragt Richard David Precht: „Kann das wirklich im Interesse von irgendwem sein?“ Sein vielbeachtetes Interview mit dem Spiegel wirbelt Staub auf – wie so oft, wenn der Philosoph mit seiner unverwechselbaren Mischung aus Empörung und Nachdenklichkeit das politische Tagesgeschehen kommentiert.
Doch jenseits des gewohnten Schwarz-Weiß zwischen Fanbase und Kritik lohnt es sich, seine Thesen ernsthaft zu betrachten – und ebenso ernsthaft zu hinterfragen.
Rüstungsausgaben und das ökonomische Paradox
Precht kritisiert die aktuellen Aufrüstungsprogramme scharf – nicht nur moralisch, sondern auch wirtschaftlich. Rüstung sei eine volkswirtschaftliche Sackgasse: „Man stellt etwas her, mit dem nichts mehr hergestellt werden kann.“ Die gigantischen Summen, die in Waffen fließen, fehlen an anderer Stelle – etwa für Innovation, Klimaschutz oder Bildung. Für ihn ist das ein „volkswirtschaftlicher Selbstmord aus Angst vor dem Sterben“.
Gerade in Zeiten des Klimawandels, so Precht, wäre es fatal, nicht alles auf die langfristige Lebensfähigkeit des Planeten auszurichten. Stattdessen werde ausgerechnet jetzt in Waffen investiert, deren Nutzen – wenn überhaupt – in einem hypothetischen Verteidigungsfall liegt.
Ukraine, Russland und die Kunst der Diplomatie
Seine Aussagen zum Ukraine-Krieg sind wohl am meisten umstritten. Precht glaubt nicht an einen ernsthaften Angriff Russlands auf NATO-Staaten – auch nicht auf das Baltikum. Russland habe sich in der Ukraine militärisch verausgabt, und ein Angriff auf die NATO wäre irrational.
Damit stellt er sich bewusst gegen viele Einschätzungen westlicher Militärexperten. Seine Haltung: Der Diskurs sei geprägt von Eskalation und Angst – dabei fehle eine „ausgeglichene Diskussion“ über realistische Bedrohungsszenarien. Stattdessen fordert er: „Wir brauchen Abrüstung und Diplomatie – sofort, nicht irgendwann.“
Expertenkritik oder Antiwissenschaft?
Precht unterscheidet zwischen Fach- und Gesellschaftsexpertise. Er räumt ein, dass Militärexperten etwas von Waffen verstehen – doch über strategische Folgen oder gesellschaftliche Auswirkungen wisse ein Philosoph oft mehr. Diese These zieht sich auch durch seine Corona-Kritik. Dort warnt er vor einem „blinden Vertrauen in Experten“ und plädiert für mehr demokratische Debatte.
Doch seine Aussagen – etwa zur Kinderimpfung – waren nicht nur philosophisch, sondern auch medizinisch formuliert. Hier vergreift sich Precht zumindest im Ton: Die Kritik an gesellschaftlichem Druck ist nachvollziehbar. Der Vorwurf, das Immunsystem von Kindern würde „manipuliert“, grenzt jedoch an pseudowissenschaftliche Rhetorik.
Die Grünen und die „neue Rechte“
Precht wirft den Grünen vor, ihre pazifistischen und ökologischen Wurzeln verraten zu haben. Er sieht eine Partei, die sich dem „Mainstream der Macht“ angepasst habe – und im Namen moralischer Überzeugung zunehmend autoritäre Mittel einsetze.
Vor allem an der sogenannten „Wokeness“ übt er scharfe Kritik: Die Fixierung auf Geschlecht, Hautfarbe oder Herkunft sei eine „Biologisierung der Moral“ – ein Denkmuster, das er als klassisch rechts bezeichnet, auch wenn es heute mit umgekehrtem Vorzeichen daherkomme.
Diese These ist provokant – und fragwürdig. Zwar gibt es überzogene Auswüchse identitätspolitischer Bewegungen. Doch die Gleichsetzung mit rechtem Denken verkennt das Ziel: mehr Teilhabe, nicht Ausgrenzung. Hier verliert Precht an Differenzierung und rutscht in pauschale Ablehnung ab.
Was bleibt: Der Wert des Widerspruchs
Precht ist kein einfacher Gesprächspartner – weder inhaltlich noch emotional. Er polarisiert, pauschalisiert, pointiert. Aber gerade das macht ihn relevant. Er zwingt uns, Denkgewohnheiten zu hinterfragen, auch wenn wir seine Schlüsse nicht teilen. Seine Stimme erinnert daran, dass Philosophie nicht bedeutet, Recht zu haben – sondern die richtigen Fragen zu stellen.
Inmitten einer Gesellschaft, die sich immer tiefer in Lager und Narrative aufspaltet, ist das vielleicht wichtiger denn je.
Fazit
Ob man Richard David Precht mag oder nicht – man sollte ihm zuhören. Seine Mahnung, nicht blind in eine neue Rüstungsspirale zu marschieren, seine Erinnerung an das Primat der Diplomatie und seine Kritik an moralischem Absolutismus verdienen ernsthafte Auseinandersetzung.
Denn vielleicht ist das, was wir gerade brauchen, nicht die eine Wahrheit – sondern den Mut zur Ambivalenz.
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